Brechreiz

Brech|reiz, der: Gefühl, brechen zu müssen
 

Das ist der Wahnsinn!


Herr, erlöse mich!"Haaaallo, rufen Sie an", kreischt es einem entgegen, wenn man nonchalant durch die Bilder der bunten Flimmerlandschaft zappt. Natürlich verweilt man beim Hüpfen zwischen RTL2 und Kabel1 schon mal bei einer dieser aufgedrehten Quizsendungen von 9live, deren Konzept inzwischen auch von anderen Sendern kopiert wird. Aber eigentlich nie länger als zehn Sekunden. Gestern war das anders: Geschlagene zwei Stunden ließ ich mich bannen, becircen und beschwören von jungen, seltsam gehetzt wirkenden Menschen, die alle nur eins wollten - meine Mithilfe.

Ein Rätsel muss gelöst werden, die Moderatoren sind offensichtlich überfordert damit. Dank moderner Telekommunikationstechnik ist das aber kein Problem: Jeder kann anrufen und den bemitleidenswerten Personen vor der Kamera, die immer nervöser werden, dabei helfen. Wer an dieser Stelle erstaunt fragt, warum manche Mitarbeiter von 9live anscheinend den ganzen Tag nichts Besseres zu tun haben, als Rätsel zu lösen und sich dabei sehr ungeschickt anstellen, obwohl sie doch inzwischen regelrechte Ratefüchse sein müssten und warum 9live sich dafür entscheidet, diese rätselbesessenen Mitarbeiter vor eine Kamera zu stellen, statt sie im Archiv zu verstecken und ein interessantes Programm zu senden, dem sei empfohlen, den Fernseher auszuschalten und sich sein Seelenheil zu bewahren.

Eine genauere Betrachtung solcher Phänomene erfordert es nämlich, sich in die Tiefen der menschlichen Psyche abzuseilen, dorthin, wo es glitschig ist und übel riecht. Quizsendungen, die nach dem Schema von 9live funktionieren, basieren auf einer stillschweigenden Übereinkunft zwischen Anrufer und Moderator: "Ich betrüge dich und du betrügst mich." Scheinbar aus Versehen ist ein Quiz leichter, als der Moderator und die Redaktion es vorgesehen haben - schnell zuschlagen! Der Moderator dagegen weiß ganz genau, dass erst Anrufer durchgestellt werden, wenn ein Vielfaches der Produktionskosten plus Preisgeld eingespielt worden ist - ätsch! Damit ist das Konzept eigentlich ausreichend erklärt, vor allem wird deutlich, dass es zwei Personen mit unlauteren Absichten braucht, um das Spiel am Laufen zu halten. Der Anrufer, der meint, er könne das System überlisten und seine anonymen Mitstreiter austricksen, indem er zu bestimmten Zeiten anruft und der Moderator, der ihm genau dazu rät, sind vom selben Schlag.

Interessant sind ohnehin eher die Varianten und Ausformungen dieses Spiels, wenn etwa der Moderator mit den Zuschauern fraternisiert, sich vermeintlich gegen die ihm auferlegten Regeln auflehnt und Boni ("Geldpakete") verteilt, gerne begleitet von Sätzen wie "Es muss alles raus!", "Das ist mir jetzt scheißegal!" sowie dem obligatorischen Sirenengeheul, welches auf die exzeptionelle Situation hinweisen soll. Diese Atmosphäre, eine Mischung aus Schützenfest und Fischmarkt, wird versucht, sowohl akustisch als auch visuell über die komplette Dauer der Sendung aufrecht zu erhalten, was aufgrund der Gewöhnung des Zuschauers schnell erstaunliche Ausmaße annimmt: Bereits nach wenigen Minuten gestikuliert der Moderator, rollt mit den Augen und brüllt sich die Seele aus dem Leib, die Regie spielt die aufpeitschenden Tonschleifen im Sekundentakt, begleitet von blinkenden Bildelementen - neben der Telefonnummer zum Glück die Gewinnsumme und den Garanten für faire und unparteiische Auswahl des Anrufers, den "Hotbutton" ("Der Hotbutton sucht!"). Kann es denn wirklich sein, dass immer noch niemand die Lösung gefunden hat, fragt man sich. Und der Moderator schreit es ins Studio.

Lange kann das nicht so weitergehen, schließlich achtet die Quizshowmoderatoren-Gewerkschaft penibelst darauf, dass ihre Mitglieder nicht überhitzen, weshalb der Moderator schon seit einer halben Stunde im Gehen begriffen ist ("Mir reicht's jetzt! Ich hab' Feierabend!") - und noch immer erbarmt sich niemand. Als dann endlich nach 90 Minuten - der Moderator schaut schon ganz böse, schließlich wollte er längst im Schwimmbad sein - eine altersschwache Seniorin die Lösung ins Telefon röchelt ("Schwein!" - "Das ist richtig, Elvira, Sie haben 100 Euro gewonnen!"), können alle aufatmen. Die Gesichtszüge des Moderators entspannen sich, er verabschiedet sich freundlich lächelnd und überlässt das Feld seinem Kollegen.

Natürlich wäre es ein Leichtes, die Betreiber von 9live (inzwischen von der ProSiebenSat.1 Media AG übernommen) des Betrugs und des Glücksspiels zu bezichtigen und die Entziehung der Rundfunklizenz zu fordern. Aufschlussreicher ist allerdings die Frage nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit ein Sender wie 9live bereits im fünften Jahr Gewinne einfahren kann. Welche Motive werden im Zuschauer angesprochen? Warum ist die Aussicht auf schnell verdientes Geld so verlockend, dass - auf beiden Seiten der Mattscheibe - alle etwaigen Bedenken beiseite geschoben werden?
Was 9live dabei von anderen "Dienstleistern", die leichtgläubige Menschen ausnehmen, unterscheidet, ist, dass die Anrufer die euphemistische Zielgruppenbeschreibung des Senders - “Vom Akademiker bis zur Hausfrau” - direkt Lügen strafen. Das - trotz aller Filtermechanismen - direkte Feedback, welches 9live groß gemacht hat, ist so auch die Achillessehne: Während konventionelle Betrüger sich im Milieu ihrer Opfer relativ sicher fühlen können, weil dieses im Idealfall homogen ist, sprich: voller leichtgläubiger Opfer, kann sich bei 9live jeder, der seine "idiot box" anschaltet, die schäbigen Trickbetrüger ins Wohnzimmer holen. Auch Verantwortliche der Landesmedienanstalten.

Die Zukunft des Senders scheint allerdings gesichert: Nach der Phase der Konsolidierung, anfangs oft belächelt und vom Feuilleton einhellig zur Schmuddelecke der Senderlandschaft erklärt, schickt sich 9live an, zum "Eventsender" zu werden. Senderchef Marcus Wolter hat große Pläne: Künftig werden Menschen vor dem Fernseher - gegen einen kleinen Obolus, versteht sich - an simulierter Geselligkeit teilnehmen können. In Zeiten des allgegenwärtigen Terrors eine vernünftige Entscheidung.


Links:

Geburtstagswunsch: 9Live will Eventsender werden
Die Erlebnisgesellschaft
Interpassivität





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