Brechreiz

Brech|reiz, der: Gefühl, brechen zu müssen
 

Königin der Schweineherzen


Die Heilige Natascha von Wien - hilft bei Langeweile und brennender NeugierVielleicht wäre es Natascha Kampusch besser bekommen, wenn ihr Entführer nicht in schuldbewusster Fürsorglichkeit das Kellerversteck mit einem Fernsehgerät ausgestattet und die zukünftige Bestsellerautorin nicht mit der allwöchentlichen "Sonntags-Krone" und anderen Zeitungen versorgt hätte.
Diese mediale Sozialisation hat offensichtlich dazu geführt, dass trotz jahrelanger Isolation die gespannte Öffentlichkeit kein verschrecktes Hascherl zu sehen bekam, sondern eine überaus medienkompetente junge Frau, die mit Hilfe ihrer Berater alle Register der Öffentlichkeitsarbeit zu ziehen bereit ist.

Von der ersten Minute der Befreiung an wurde die Neugier auf das Medienprodukt Natascha geschürt: Die radikale Abschirmung um das verhüllte Entführungsopfer schien alle Hoffnung zunichte zu machen, dann meldete sich Natascha in einem Brief an die Öffentlichkeit plötzlich selbst zu Wort. Die Bieterschlacht um die Rechte konnte beginnen. Dafür mussten Zusagen gemacht und Anreize gegeben werden: Aus dem Interview hinter einer Sichtschutzwand wurden so peu à peu komplette Fotostrecken und extensive Fernseh-Interviews, in denen das Opfer nicht nur nicht anonymisiert erschien, sondern auch kokett mit dem zu transportierenden Image, der gewünschten Außenwahrnehmung, spielte - die Märtyrerin war geboren.

Mit diesem geschickten Framing - Natascha als bescheidene Heilige (das Kopftuch als Accessoire ist beileibe kein Zufall) - wurde zweierlei erreicht: Das Opfer wurde sakrosankt, niemand würde es wagen, nicht autorisierte Geschichten, also Unwahrheiten, über dieses herzensgute Wesen zu verbreiten, der Markenschutz war damit gewährleistet. Außerdem wird jedes Wort einer solchen Person plötzlich mit Bedeutung versehen - Millionen lauschten verzückt den banalen Anekdoten. Die Sehnsucht vieler Menschen nach einer Person, die vermeintlich etwas Besonderes darstellt, die dank ihrer durch das Scheinwerferlicht herausragenden Stellung etwas über das Leben, das Menschsein als solches auszusagen vermag und deren Abglanz für wenige Minuten das eigene triviale Dasein vergessen macht, ist riesig.

Natascha wird zum Symbol, die Interpretationsansätze sind beliebig: Gegner des Schulsystems können darauf verweisen, dass sich auch ohne Schulwissen und soziale Kontakte mit Gleichaltrigen ein scheinbar reifer und intelligenter Mensch entwickeln kann, aber auch Medienvertreter frohlocken: Verdankt nicht Natascha ihre gewählte Ausdrucksweise dem Kulturprogramm von Ö1? Den größten Dienst allerdings erweist sie der Psychologie - als seltenes Fallbeispiel und als Aushängeschild, Pygmalion lässt grüßen, für die Profession. Kinderpsychiater Max Friedrich, selbst nicht eben medienscheu, hat große Pläne: Angesichts der vermeintlich horrenden Defizite - Natascha hatte keine normale Pubertät und musste sich ihr Ich aus den Tischresten zusammenkratzen - erscheint eine langwierige Therapie mit periodisch anberaumten Pressekonferenzen der Therapeuten unerlässlich. Jeder Schritt muss abgewogen werden, "Natascha mag am liebsten Kaiserschmarrn und hat den Umständen entsprechend festen Stuhl", doziert Friedrich.

Diese Aufblähung des privaten Elends ins Mythologische wird dann auch gewissenhaft von den Medien kolportiert, entweder direkt, auf BILD-Niveau ("Kann sie jemals wie ein normales Mädchen einen Mann lieben?"), oder indirekt, auf der Meta-Ebene des Feuilletons, wo die Steilvorlage genutzt wird, um Medienhysterie und Untergang des Abendlands gewohnt eloquent in Zeilenform zu bringen. Auch Natascha weiß, was sie ihrer Rolle schuldig ist: Sie plant, eine Natascha-Kampusch-Foundation für Recht und Ordnung zu gründen.
Man wünschte sich, der Entführer hätte die Tür zum Keller beizeiten zugemauert.





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