Brechreiz

Brech|reiz, der: Gefühl, brechen zu müssen
 

Travellertum, das


Ich flieg' nach Eschnapur, dem Tiger auf der Spur...Ersatz für die "Grand Tour", die sich nun, versehen mit Salewa-Rucksack und Digitalkamera, auch Angehörige einkommensschwächerer Bevölkerungsschichten leisten können, die dann ihre Duftmarken und Travellerschecks in Indonesien, Indien, Ecuador - oder zu welchem Land auch immer ein "Lonely Planet" verfügbar ist - hinterlassen. Besonders reizvoll dabei die unscheinbaren Verknüpfungen, wenn etwa die Speicherkarte, beim örtlichen Elektrofachmarkt erworben, im Fotoapparat um den Hals baumelnd, wieder an ihren Ursprungsort zurückkehrt, dem pittoresken chinesischen Städtchen, welches mit seinem Kontrast aus ruraler Atmosphäre und industrieller Infrastruktur als willkommenes Motiv unter /China2006/8473822.jpg abgespeichert wird. It's a small world, after all.

Natürlich wird es immer schwerer, "unverdorbene" Destinationen ausfindig zu machen, ein Run hat eingesetzt auf Regionen, die noch "geclaimt" werden können, bei deren Erwähnung gelegentlich der Studentenparty man nicht mitleidig belächelt wird ("Indonesien war wirklich eine Erfahrung!"), deren touristische Jungfräulichkeit dadurch bestätigt wird, dass verschreckte Eingeborene dem westlichen Teufel in Gore-Tex mit der Machete zu Leibe rücken und erst durch klingende Münze und Vermittler des Auswärtigen Amts von der Einträglichkeit ihres Tuns überzeugt werden können.

Glück ist ein gar flüchtig Ding, eine Ressource, die der erlebnishungrige Rucksacktourist immer wieder aufzufrischen hat, die ihm wie Sand durch die Finger rinnt an Tagen, an denen er nicht mit peruanischen Kaffeebauern Mate schlürft oder guatemaltekische Ruinen erklimmt, sondern auf Zwischenlandung in der tristen Reihenhaushälfte die nächste Reise plant. Der anfängliche Enthusiasmus weicht einer professionelleren Rezeptionshaltung: Traveller sind Zeitzeugen, die mit offenen Augen durch die Welt gehen, Erlebnisverwertungsmaschinen, die das Leben der Anderen in eigene Erfahrung, eigenes Leben umwandeln. Alles ist Eindruck, alles ist Form, alles ist Motiv: Das Armenviertel in Kalkutta, die Weizenfelder in Oregon, die Wasserbüffel in Vietnam. Wer ist der Traveller, dass er sich ein Urteil erlauben würde? Gerade autoritäre Regime und Länder, deren Bruttoinlandsprodukt der Reisekasse des umtriebigen Weltenbürgers entspricht, bieten reizvolle Biotope, Erregungs- und Bilderwelten, die konkurrierenden Erlebnisangeboten wie Phantasialand und Disneyland eines voraus haben: Authentizität. Es wirkt alles so echt.





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