Brechreiz

Brech|reiz, der: Gefühl, brechen zu müssen
 

BILD dir deine Öffentlichkeit


Wir machen uns die Welt, widde widde wie sie uns gefällt.Fortschritt ist Steigerung der Effizienz: Ein definierter Zielzustand kann mit einem geringeren Aufwand an Ressourcen erreicht werden. In dieser Hinsicht ist moderne Propaganda erschreckend fortschrittlich: Dank besserer Kommunikationsmedien können heute mit einem Minimum an Zeit- und Geldaufwand angestrebte Ziele erreicht werden. An den Methoden dagegen hat sich freilich nichts geändert: Man erlangt durch finanzielle Macht Einfluss auf Multiplikatoren, Menschen, die aufgrund ihrer Position in der Öffentlichkeit besondere Glaubwürdigkeit genießen, und lässt diese die eigenen Ziele vertreten.

Dank Monopolbildung und mannigfaltiger wirtschaftlicher Verknüpfungen der Medienkonzerne in modernen Gesellschaften muss man tendenziell immer weniger Menschen direkt beeinflussen, der Rest spielt "follow the leader": Ökonomische Zwänge ersetzen Knüppel und Zensor, eventuelle Anwandlungen von Ehrgefühl und Berufsethos werden durch distanzierende Ironie in das gute Gefühl, trotz allem nicht dazu zu gehören, weil man die Mechanismen, die einen versklaven, ja durchschaut, transformiert.

Auf der Ebene der Mitwissenden und -wirkenden stehen Macht und Privilegien, die für einiges entschädigen, auf der Ebene der Unwissenden, die in einer Mediengesellschaft auch die unteren Ränge der Multiplikatoren und Meinungsführer umfasst, Ignoranz und der unbedingte Wille, zu glauben: an große Ideen, große Namen, große Reden und des Kaisers neue Kleider. Geistige Unmündigkeit und Angst sind der Kitt, der alles zusammenhält.

Volkes Stimme wird dabei nicht zuletzt von Parlamentariern als untrüglicher Indikator für Wohl und Wehe der Nation gewertet, weswegen Medienunternehmen, die nicht allein darauf vertrauen, dass die elaborierten Ausführungen der Feuilleton-Edelfedern schon irgendwie nach unten sickern, sondern an anderer Stelle kräftig Gülle nachlegen, naturgemäß die Nase vorn haben: Die Axel Springer AG, die momentan in Kooperation mit befreundeten Medienhäusern die mehrstufige Kampagne "Demokratie - nein danke!" fährt, kann darauf vertrauen, dass etwa gesellschaftspolitische Themen, die in der WELT sachlich-eloquent dargestellt werden, an BILD weiter gereicht auf Erbsenhirn-Niveau heruntergebrochen werden, entsprechend die gewünschten Reaktionen hervorrufen, welches wiederum in der WELT besorgte Stimmen vor Politikverdrossenheit warnen lässt, woraufhin ARD und SPIEGEL ONLINE fröhlich krakeelend mit einer fabrizierten Umfrage sekundieren: "Mehrheit der Deutschen zweifelt an Demokratie". Dieses medieninterne Zitate-Pingpong kann theoretisch soweit gehen, bis die komplette in den Medien gespiegelte Öffentlichkeit simuliert ist. Was Politiker im Fond ihrer Dienstlimousine bei Lektüre der Morgenzeitungen den Kopf schütteln und beim Lobbyisten um Hilfe anfragen lässt. Womit sich der Kreis schließt.

Die im Rahmen des angestrebten Abbaus demokratischer Strukturen gerade aktivierte Sub-Kampagne "Bundeswehr-Skandal in Afghanistan" ist ein Musterbeispiel an Effizienz: Das gesetzte Ziel ist die Abschaffung der aufgrund der jüngsten deutschen Geschichte sehr idealistisch geratenen Konzeption der Bundeswehr, der "Inneren Führung", die vom Soldaten, dem "Staatsbürger in Uniform", keinen blinden Gehorsam Vorgesetzten gegenüber verlangt, sondern Menschen- und Völkerrechte, das eigene Gewissen und nicht zuletzt den genau definierten parlamentarischen Auftrag bindend macht für die Handlungen jedes einzelnen Soldaten. Säbelpolierenden Generälen und Vertretern der Waffenindustrie (Arbeitsplätze!), die sich im Rahmen des aktuellen Großmanövers "USA vs. The World" stärker eingebunden sehen und für lang gehegte Großmachtsträume Morgenluft wittern, natürlich ein Dorn im Auge, solche Hippiefantasien.

Allerdings offenbarte sich der Versuch, diese Strukturen in den letzten Jahren auf parlamentarischem Weg durch zähe Lobbyarbeit zu kippen angesichts des befürchteten Imageverlustes ehemals friedensbewegter Genossen und Genossinnen als wahre Sisyphosarbeit. Aber wie der Zufall so spielt: Gerade als auch dem Letzten klar werden muss, dass die amerikanische Hegemonialmacht im Nahen Osten mit ihrem grandiosen Invasionsplan "Iraq on a shoestring - Flowers and Candy" ebenso grandios scheitert und beim nett gemeinten Versuch, Demokratie zu verbreiten, mal wieder nur verbrannte Erde, Leichen und einen weiteren Eintrag auf der Liste der "failed states" hinterlässt, zeigt sich, dass auch in deutschen Landen respektive dem deutschen Hinterland am Hindukusch nicht alles Staatsbürger ist, was Uniform trägt. Gar roh und archaisch gebärden sich da deutsche Biedermänner, wo sie doch das blitzblanke Image der Bundeswehr ("Erst Blinken, dann Schießen", Weißbuch 1994) in alle Welt tragen sollen.

"Tages Arbeit! Abends Gäste!" bzw. Prosit! - ab diesem Zeitpunkt kann sich der besonnene Propagandist zurücklehnen und die Maschine brummen lassen, für den richtigen "spin" sorgen seine Untergebenen und deren Untergebene:

Richtig durchgreifen müsse man in diesem Haufen, allein es fehle die Handhabe - nur klare hierarchische Strukturen gewährleisteten Zucht und Ordnung - die Bundeswehr müsse zu einer straff organisierten, spezialisierten Interventionsarmee umstrukturiert werden, gerade auch angesichts der Kosten und der Verpflichtungen gegenüber den Bündnispartnern - Konzept der "Inneren Führung" gescheitert und unzeitgemäß - so lauten dann auch folgerichtig die Kommentare, nachdem sich der Wüstenstaub gelegt hat. Da in die eigentliche Nachricht schon eine Interpretation, ein "framing" eingewoben wurde, welches dank der Deutungshoheit der "Experten" ungefragt übernommen wird, kommen die meisten Berichterstatter gar nicht auf die Idee, nach dem "cui bono?" zu fragen:

Wieso tauchen die 2003 geschossenen Fotos genau jetzt auf? Wieso gerade in sonst so im wahrsten Sinne des Wortes "staatstragenden", militär- und autoritätsfreundlichen Publikationen der Springer-Presse, deren Mitarbeiter sich zu transatlantischer Verbundenheit verpflichtet fühlen? Egal, "any news is good news", vor allem, wenn der Nachrichtenwert so hoch ist wie bei diesem "Skandal" - und so tragen alle, aber auch wirklich alle dazu bei, neben der Nachricht die gewünschte Interpretation bis in die letzten Haushalte zu trompeten. Manche mögen sich dabei sogar mit stolz geschwellter Brust als Vertreter der "vierten Macht" sehen, die den Herren Militärs auf die Finger klopft.

Die Veränderung des Images der Bundeswehr-Soldaten hin zu archaischen Kämpfern, die nur mit ebenso archaischen Machtstrukturen gebändigt werden könnten, da der Soldatenstand nun mal, trotz aller Liebe zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung und auch unter Berücksichtigung der jüngsten deutschen Geschichte, eine Profession "sui generis" darstelle, wurde so äußerst kosteneffektiv bewerkstelligt. Die nächsten Debatten im Bundestag dürften sich nun wesentlich "fruchtbarer" gestalten. Bleibt nur das Armutsproblem: Den meisten jungen Deutschen geht es, im Gegensatz zu ihren amerikanischen bzw. lateinamerikanischen Altersgenossen, noch lange nicht dreckig genug, um sich als Kanonenfutter für eine Handvoll Dollar eine Kugel in den Kopf jagen zu lassen. Naja, morgen ist auch noch ein Tag.


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