Brechreiz

Brech|reiz, der: Gefühl, brechen zu müssen
 

Elementary Class Consciousness


Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt"- all wear green," said a soft but very distinct voice, beginning in the middle of a sentence, "and Delta Children wear khaki. Oh no, I don't want to play with Delta children. And Epsilons are still worse. They're too stupid to be able to read or write. Besides they wear black, which is such a beastly colour. I'm so glad I'm a Beta."

There was a pause; then the voice began again.

"Alpha children wear grey. They work much harder than we do, because they're so frightfully clever. I'm really awfully glad I'm a Beta, because I don't work so hard. And then we are much better than the Gammas and Deltas. Gammas are stupid. They all wear green, and Delta children wear khaki. Oh no, I don't want to play with Delta children. And Epsilons are still worse. They're too stupid to be able -"
Aldous Huxley, "Brave New World"

Distinktionsvorlagen in einer vermeintlich klassen- und schrankenlosen Gesellschaft werden vor allem von Massenmedien, den "anonymen Autoritäten", geliefert. Seit Aufnahme des Sendebetriebs unangefochten in der Vermittlung kollektiver Dispositionen, der Propagierung von Bewertungs- und Wahrnehmungskriterien: das Fernsehen. War früher der Wirtschaftswunderfilm mit der kessen Biene aus kleinbürgerlichem Milieu, die sich trotz mokantem Schmollmund und schnarrender Stimme nichts sehnlicher wünscht, als den adretten Juniorchef (mit Sohn aus erster Ehe) zu ehelichen, noch bonbonfarbenes Naschwerk, welches beim Verzehr legitime Werte (Kinder, Konsum, Kleidermode, Klassenbewusstsein) vermittelte, müssen heute dank medienerfahrener Konsumenten stärkere Geschütze aufgefahren werden, um deren Fiktions-Filter zu durchbrechen. Die Realität muss es sein, ungeschminkt, Grau in Grau, kalt und dreckig. Die Realität der neuen alten Unterklasse, zu deren Alltag anscheinend auch emsig protokollierende Kamerateams gehören - Besuch beim Arbeitsamt: Kabel1 ist schon da; Kleider aus dem Secondhandladen: die ZDF.reporter lugen aus der Umkleidekabine.

Ganz dem ureigenen Bildungsauftrag verpflichtet, mischen die öffentlich-rechtlichen Sender kräftig mit, wenn es darum geht, ein möglichst objektives Bild zu vermitteln. Dass dabei vor allem Analphabetismus, Alkoholismus, Armut, Asozialität und Arbeitslosigkeit - kurz: Abstoßendes - vorgeführt wird, nun, das muss wohl ein Zufall sein, schließlich ist dies die Realität, die man als neutraler Beobachter mit der Kamera einfängt. Wie fühlen Sie sich, jetzt, da Ihnen die Wohnung gepfändet wurde? Schlecht? Was als seriöse Milieustudie ausgegeben wird, dient vor allem der Erzeugung und Verstärkung latenter Ängste beim Zuschauer, der sich - noch - Fernseher, Sofa und Strom leisten kann: Die untere Mittelklasse ist angepeilt als Zielgruppe, der kräftig eingeheizt werden soll. Auch du könntest dort landen, streng' dich also gefälligst an, sei zufrieden, verhalte dich unauffällig und das Los könnte dich verschonen. Könnte. So tönt es aus dem schwarzen Kasten, der Vater, Mutter, Lehrer, Richter, Polizist und guter Freund in einem ist.

Solidarität mit den bemitleidenswerten Kreaturen auf dem Bildschirm, die, zur Schau gestellt im natürlichen Habitat zwischen Discounter, Arbeitsamt und Sozialwohnung, in ihrer Hilflosigkeit sogar das Kamerateam als Retter in der Not betrachten, wird und kann nicht aufkommen, dafür ist gesorgt: Als Einzelschicksale werden sie gezeigt, Opfer eines anonymen, nicht näher genannten Systems, vereint nur durch eine gemeinsame Charaktereigenschaft, die sie zum Ausschuss, zum Paria gemacht hat: Inflexibilität. Das Urteil lautet: Unangepasstheit, mangelnde Qualifikation, schlechte Vermarktbarkeit, Widerwille gar. Im Grunde also selbst schuld, denkt sich der Zuschauer. Kann mir nicht passieren, schließlich habe ich gerade eine Weiterbildung absolviert. Und auf die Bezahlung der Überstunden verzichtet. Vielleicht doch noch das Fernstudium...?

Die Stimme aus dem Off, die gewissenhaft Schicksale und Lebensläufe skizziert, ist so eher Feigenblatt seriöser Dokumentation, das Bildmaterial Mittel zum Zweck. Dargestellte Personen sind selten wütend, rebellisch, sondern vielmehr passiv, in ihr Schicksal ergeben. Jedem das Seine, jeder an seinem Platz. Keine anklagenden Worte, keine Fragen nach dem Warum, nach den übergeordneten Strukturen: Wie entstehen solche Verhältnisse? Wer hat die notwendigen Gesetze verabschiedet? Wer profitiert davon? Wer kontrolliert es? Wer hält es am Laufen? Wie kann Abhilfe geschaffen werden, kurz-, mittel- und langfristig? Dafür hat die Zeit dann doch nicht gereicht.
Stattdessen Bilder, Bilder, Details, Wiederholung des Immergleichen, Ablenkung, Zementierung des Ist-Zustandes.

Das Ziel ist klar: Durch die schiere Bilderflut Realitäten schaffen, dabei aber dank des dokumentarischen Anspruchs unangreifbar bleiben. Angesichts der Organisationsstrukturen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk (und prominenter Beispiele wie der Lobby-Unterwanderung bei "Sabine Christiansen") verwundert es nicht, dass gerade bei ARD und ZDF Kräften, die an einer Propagierung "altbewährter" Gesellschafts-, Rollen- und Klassenmuster, durchaus auch mit kritikimmunisierender Ironie, mittels medialer Distinktionsvorlagen arbeiten, Tür und Tor geöffnet sind.
Nächster Halt: "Bräuteschule". Honni soit qui mal y pense.





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