Brechreiz

Brech|reiz, der: Gefühl, brechen zu müssen
 

Lerne, das System zu lieben


Orgy-porgy gives releaseStießen die Verfechter des Panoptismus-Gedankens, der totalen Überwachung und Kontrolle zum Wohle aller, in den vergangenen Jahrzehnten selbst bei vergleichsweise untergeordneten Projekten wie der geplanten Volkszählung auf massiven Widerstand in der Bevölkerung, werden in der heutigen Zeit gleich reihenweise Gesetze durchgewunken, bei denen selbst der interessierte Laie nicht umhin kann, zu vermuten, dass als Grund für die schreiende Ignoranz eines Großteils der Bevölkerung angesichts massiver Einschnitte in ihre Privatsphäre wohl nicht nur das reflexhaft vorgetragene Argument "Erst kommt das Fressen, dann die Moral", Bürger, deren Grundbedürfnisse bedroht werden, kümmerten sich eben nicht um Datenschutz und Persönlichkeitsrechte, herangezogen werden kann.

Wurde die Volkszählung in den 80ern noch als externer Eingriff einer zentralistischen bürokratischen Macht in die Privatsphäre gesehen, würde heute eine simple Onlinebefragung, getragen von einer massiven Werbekampagne, wahrscheinlich zum Erfolg führen. Hatte in der Vergangenheit die Gewissheit, von einer zentralen Macht beobachtet und kontrolliert zu werden, zwar Konformität zur Folge, trug sie jedoch auch gleichzeitig den Keim zu Unzufriedenheit, Widerwille, gar Rebellion in sich. Niemand fühlt sich gerne gegängelt und bevormundet, schon gar nicht als vermeintlich unabhängiges Individuum in einer "freien Gesellschaft".

Wenn dagegen die Normen internalisiert sind und als Konsens, der innerhalb der Hegemonie genügend Spielraum für Kreativität und Detailentscheidungen lässt, durch alle Kanäle des Systems ventiliert werden, wobei immer die Illusion der Wahl aufrecht erhalten wird - legitime Lebensstile nach dem Baukastenprinzip etwa sind Legion -, beginnt der Einzelne sich nach den omnipräsenten Normen auszurichten, deren Vermittler unsichtbar bleiben, und sie als seine eigenen zu akzeptieren. Ab diesem Zeitpunkt wird Abweichung von der vermeintlich selbst gewählten Norm nicht nur sozial sanktioniert, etwa durch diverse Sekundärgruppen, deren Mitglied das Individuum ist, sondern - wesentlich effizienter - sich auch als kognitive Dissonanz bemerkbar machen: In einer freien, grenzenlosen Gesellschaft, die jedem die Chance bietet, alles zu erreichen und sein Leben zu genießen und die auch - den Massenmedien sei Dank - genügend Rollenvorbilder bietet, an deren Beispiel sich der Einzelne messen kann, ist Scheitern natürlich selbstverschuldet, Unzufriedenheit und Scham sind die Folge. Nicht das System, sondern die eigene Unzulänglichkeit, die Unfähigkeit, die Normen, deren Leitbild ja doch Erfolg bedeutet und Glück und Anerkennung verspricht, einzuhalten, ist schuld.

Diese Grundhaltung - gleichzeitige Demut ob des verbesserungswürdigen Status und Stolz auf das Erreichte, verbunden mit Geringschätzung gegenüber den Verlierern dieses "Spiels" - ist, verankert in den Köpfen der Bürger, Voraussetzung für die exhibitionistische Gesellschaft. Sich ausweisen zu müssen, nicht gegenüber dem überheblichen Schutzmann, sondern gegenüber den anderen Mitspielern, die zugleich die Jury stellen, aber auch auf ihre eigene Selbstinszenierung acht geben müssen, sowie gegenüber dem inneren Richter, der wie ein aufgekratzter Motivationstrainer tadelt, bezichtigt und zu "self improvement" rät, wird zur alltäglichen Erfahrung.

Look Ma, no swastikas!Man ist jederzeit bereit, seine den jeweiligen Trends (bspw. körperliche Fitness, emotionale Intelligenz, Promiskuität) unterworfenen Benchmark-Werte offenzulegen, sie als stimmiges Gesamtbild zu präsentieren, die Tatsache negierend, dass die Art und Zusammensetzung der aktuell legitimen Werte stark fluktuiert und die gestern noch voller Inbrust vertretene Ge-Meinung heute bereits mit Liebesentzug bestraft würde und deshalb allein aus Gründen der Psychohygiene besser wie ein altes Fotoalbum voll seltsamer Vergangenheit betrachtet wird, ja gerade diese Fähigkeit zur "Kompartmentalisierung" bei gleichzeitigem Bestreben, eine attraktive und überzeugende "personal identity" zu präsentieren, wird zum Schibboleth des erfolgreichen Menschen, der gelernt hat, Hülle zu sein, diese aber selbstbewusst zu Markte trägt.

Dieser "exhibitionistische" Mensch, der zunehmend einer Schaufensterpuppe gleicht, in Internet-Communities das perfekte Werkzeug zur Selbstinszenierung, zum "Netzwerken" gefunden hat, das Innerste nach außen kehrt und Intimität nutzt, um sie wohl dosiert als gefragte Ressource im Rahmen der Inszenierung zu verausgaben, die ihm auferlegt ist, ist dabei jedoch nur eine beliebige Manifestation, ein Phänotyp des eigentlich konstituierenden Persönlichkeitselements, mangelnder Selbstreflexivität, welche innerhalb dieses Normensystems höchstens als affirmierendes Moment vorkommt - Selbstkritik ist ein wirkmächtiges Kontrollinstrument in einer Gesellschaft, in der starre Tabus und Verbote, etwa aus dem Bereich der Sexualität, zugunsten subtilerer Idealvorstellungen und Normen ersetzt worden sind, die ihrem Charakter nach unerreichbar sind und damit den Druck, Versagensängste und Schamgefühle aufrecht erhalten.
In Frage gestellt werden diese Normen allerhöchstens spielerisch und temporär, da sie positiv formuliert sind - wer kann schon etwas gegen Attraktivität, Erfolg, Glück und Beliebtheit haben? - und höchst invasiv auftreten: Metakritik kan sich nur derjenige leisten, der in der Bewertungsmatrix gut abschneidet und damit vom Verdacht befreit ist, seine eigene Unzulänglichkeit zu thematisieren, andere dagegen müssen sich vorsehen, den sezierenden Blick nicht auf sich zu lenken und damit ihre unverdiente Kreditwürdigkeit zu verspielen.
Detailkritik dagegen wird gerne gesehen: Zu sehr ist dem modernen Menschen die Illusion seiner Individualität und Unabhängigkeit eingebrannt, als dass er sich zu lange irgend einem Kollektiv zugehörig fühlen will, selbst wenn es das Kollektiv der Individualisten in der besten aller möglichen Welten ist. Ritualisiertes Aufbegehren, die rebellische Attitüde, ist als Konkurrenzdenken, als Bestreben, die anderen zu überflügeln, sich vom Rest der Konformisten abzusetzen, durchaus ins System integriert und wird, ausreichend kanalisiert und ritualisiert, gepflegt, etwa im Kabarett oder traditionell in den Jugendsubkulturen, allerdings auch hier in die Hegemonie eingebunden: Erfolg adelt, Misserfolg diskreditiert.
Nonkonformismus wird, auf diese Weise entkernt und seiner Sprengkraft beraubt, zum reinen Erlebnisangebot und eifrig vor sich hergetragenen Persönlichkeits-Accessoire, das Fehlen des dazu gehörigen eigenständigen und kritischen Denkens wird durch Versatzstücke aus der Phrasenfabrik der Massenmedien, Gemeinplätze und Filmzitate, überdeckt.

Das Paarungsverhalten der europäischen Wanderheuschrecke gibt Forschern weiterhin Rätsel auf.Die Folgen sind drastisch: Der Durchschnittsbürger kennt sich besser in der Besetzung amerikanischer TV-Importe als in der des Bundestages aus, nimmt sich die Freiheit und das Recht, den Nachbarn wegen überhängender Baumzweige zu verklagen, lässt sich aber das Recht auf Privatsphäre und die Freiheit, seine Meinung zu sagen, nehmen, legt Wert auf einen gesunden Lebenswandel und Entspannung, aber keinen Wert darauf, für Arbeitnehmerrechte zu kämpfen. Das Fehlen jeglicher Kongruenz, die ungeheure Disparität der gleichzeitig vertretenen Meinungen und Ansichten und die Ignoranz, welche mit Halb- und Viertelwissen sowie mangelnder Selbstreflexivität einhergeht, machen es so leicht, diesen Menschentyp zu kontrollieren. Sich als Gewinner wähnend, folgt er doch immer der gleichen Karotte, die, je nach Trend, in unterschiedlichen Formen erscheint. Nur eins bleibt gleich: Er schwimmt immer im Strom mit, auch wenn ab und zu ein wenig Wasser geschluckt wird. Ist der Mainstream reaktionär, ist er's auch, wird der Sozialstaat ins Herz geschlossen, entdeckt er seine linke Seite, steht Überwachung und Misstrauen an, bespitzelt er den Nachbarn, werden Promiskuität und Pornographie als Mittel der Wahl gesehen, um die Massen dumm und zufrieden zu halten, zieht er sich als erster den String-Tanga an. Lebensmotto: "Weil's alle tun!"


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