Brechreiz

Brech|reiz, der: Gefühl, brechen zu müssen
 

Kämpfernatur


Dein Freund und HelferEin ganz besonders eindrucksvolles Beispiel eines "Elefanten im Wohnzimmer"stellt die Tatsache dar, dass in der Medienberichterstattung seit dem Schulmassaker von Littleton 1999 nie auch nur mit einem Wort darauf eingegangen wurde, dass die in den sogenannten "Killerspielen", welche gern für Massaker, Misanthropie und Motivationslosigkeit verantwortlich gemacht werden, dargestellten Personen hauptsächlich polizeilichen, paramilitärischen oder militärischen Spezialeinheiten angehören, also staatliche Macht repräsentieren.

Von der minutiösen Planung im Vorfeld, die unter Beweis zu stellen selbst der soziopathischste Amokläufer der Nachwelt gegenüber sich verpflichtet fühlt, über das mitgeführte Waffenarsenal und die taktische, überlegte Vorgehensweise beim "Zugriff" bis zur mediengerechten Stilisierung, alles erinnert frappierend an in der Öffentlichkeit hauptsächlich durch Filme und TV-Dokumentationen präsente Spezialeinheiten wie die deutschen SEKs und amerikanische SWATs. Diese bieten ein attraktives Rollenvorbild: Starkes Individuum, aber Teamplayer, "bad boy", aber Beschützer der Gemeinschaft, martialisch, aber sich Befehlen unterordnend - ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Anforderungen und Widersprüche. Der Elitekämpfer bewältigt sie bravourös, steht aber gleichzeitig durch die Nähe des Todes, die seine Arbeit mit sich bringt, über den Dingen: Der Hauch des Jenseitigen, der den Krieger umweht, den seine Fähigkeiten weit über den Rest der Gemeinschaft stellen, der sich ihr aber um der Güte und des Schutzes willen in den Dienst stellt, obwohl er es nicht nötig hätte, macht den besonderen Reiz dieser Person aus. Man könnte auch anders, so die immer (teils bedrohlich) mitschwingende Botschaft. Zivilisierter und gemeiner Mörder unterscheiden sich letztlich nur hinsichtlich der Motivation, ihrer eigenen Verortung im System.

I'm a lonesome cowboyDass dieser Gewinnertyp besonders für spätpubertierende männliche Jugendliche faszinierend ist, die sich selbst als Verlierer sehen und ihre Ohnmacht täglich spüren müssen in Institutionen, in denen strukturelle Gewalt nur durch die vermeintliche Egalität der Leistungswilligen kaschiert wird, dürfte niemanden verwundern. Die Waffengewalt, die es der Exekutive des Staates ermöglicht, ihre (oft) legitimen Ziele durchzusetzen, erlaubt es dem Amokläufer, empfundener Gewalt mit Gegengewalt entgegenzutreten, die Verhältnisse - wenigstens für kurze Zeit - zu seinen Gunsten zu verändern, obwohl er die Anforderungen nicht erfüllt und auch seine Gewalt nicht legitimiert ist.
Filme und Computerspiele spiegeln dabei nur die gesellschaftliche Realität wider: Gewalt wird nicht erst als ultima ratio ausgeübt, als physische Gewalt, sondern immer und überall. Die normative Kraft des Faktischen erledigt den Rest, von Gesetzen über Weltbild bis zu Gepflogenheiten, ja bis zur Sprache richtet sich alles nach der Macht aus. Solange die physische Macht unsichtbar bleibt oder nur zu Tage tritt bei groben Verstößen gegen die allen instinktiv bekannten Regeln, wird dies akzepiert. Die geballte Verachtung der Gesellschaft dagegen trifft den Amokläufer noch postum, weil er die Machstrukturen kurzgeschlossen hat, sich zu Richter und Henker in eigener Sache aufgeschwungen hat und in stumpfsinniger Manier in einer Art "schwarzen Pädagogik" die Logik des Systems vorführt, dessen Regeln er doch anwendet, nur in so konzentrierter Form und rascher Zeitabfolge, dass ihm die Legitimation fehlt und den mit den neuen Machtstrukturen Konfrontierten keine Zeit bleibt, sich auf diese einzustellen - worauf es dem Amokläufer auch nicht ankommt, da er sich selbst mit Waffengewalt ausgestattet den üblichen Modalitäten verweigert: Verschonung durch Unterwerfung unter die Macht ist nicht vorgesehen. Dieser Aspekt des Geschehens wirkt gewöhnlich am schockierendsten.

You want fries with that?Beruhigend dagegen gesellschaftliche Machtstrukturen, bei denen jeder weiß, was er zu tun (und zu lassen) hat, um nicht plötzlich in die Mündung einer Maschinenpistole zu schauen. Und instinktiv versteht diese Regeln jeder: Den Betrieb nicht stören, die Institutionen nicht behindern, die jene Strukturen weiterhin in die Gesellschaft einweben. Der Staat hat natürlich ein vitales Interesse daran, seine Exekutive so effektiv und schlagkräftig wie möglich zu präsentieren, um weiterhin den status quo und damit seine Macht aufrecht zu erhalten. Spezialeinheiten der Polizei üben einen "Halo-Effekt" aus, noch der bräsigste Dorfpolizist profitiert vom Image der martialischen Spezialeinsatzkommandos. Auch diejenigen, die gegen Unterdrückung rebellieren wollen und sich ironischerweise an Gebaren und Vorgehensweise der "Profis" orientieren, verstehen diese Wirkweise und setzen ihrerseits alles daran, zur "Legende" zu werden, wenn auch nur für die Nachwelt.


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Elephant in the room
Halo-Effekt





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